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Psychologie der Massen von Gustave Le Bon - Hörbuch und eBook download - DRM-frei

Aureon Verlag

Psychologie der Massen von Gustave Le Bon - Hörbuch und eBook download - DRM-frei

€2.95 €19.95
Titel: Psychologie der Massen
Autor: Gustave Le Bon
DRM-frei: Ohne Kopierschutz. Auf beliebigen Abspielgeräten nutzbar.
Produktionsart: Ungekürzt
Spieldauer: 5 Std. 30 Min.
Gesprochen von: Jan Peter Richter
Sprache: Deutsch
Kategorie: Philosophie
ISBN: 9783945324035 (Hörbuch)
Erscheinungsdatum: 1.7.2014
Erstveröffentlichung (lit. Vorlage): 1922

(C) Aureon Verlag GmbH
"Machen wir uns den Sachverhalt nochmals klar: Wenn die Psychologie, welche die Anlagen, Triebregungen, Motive, Absichten eines einzelnen Menschen bis zu seinen Handlungen und in die Beziehungen zu seinen Nächsten verfolgt, ihre Aufgabe restlos gelöst und alle diese Zusammenhänge durchsichtig gemacht hätte, dann fände sie sich plötzlich vor einer neuen Aufgabe, die sich ungelöst vor ihr erhebt. Sie müßte die überraschende Tatsache erklären, daß dies ihr verständlich gewordene Individuum unter einer bestimmten Bedingung ganz anders fühlt, denkt und handelt, als von ihm zu erwarten stand, und diese Bedingung ist die Einreihung in eine Menschenmenge, welche die Eigenschaft einer "psychologischen Masse" erworben hat. Was ist nun eine "Masse", wodurch erwirbt sie die Fähigkeit, das Seelenleben des Einzelnen so entscheidend zu beeinflussen, und worin besteht die seelische Veränderung, die sie dem Einzelnen aufnötigt?" Dieser Frage, niedergeschrieben von Sigmund Freud in seinem Buch "Massenpsychologie und Ich-Analyse", widmete sich der französische Gelehrte Gustave Le Bon erstmals umfassend in seinem Hauptwerk "Psychologie der Massen" aus dem Jahr 1895. Er beschreibt hier intensiv die Verhaltensveränderung des Individuums, die sich aus ihrer Zugehörigkeit zu einem größeren Personenkreis, einer Masse, ergibt. Mit diesem Werk wurde Le Bon zum Begründer und Vordenker der Massenpsychologie. Seine Ideen und Ansichten entwickelte er auf zahlreichen Reisen zu verschiedenen Völkern Afrikas und Asiens. Dort betrieb Le Bon intensive völkerkundliche Studien und veröffentliche daraufhin zwei umfangreiche Beschreibungen der Kulturen des Orients und der Araber. Sein erfolgreichstes Buch, die Buchvorlage zum Hörbuch "Psychologie der Massen" wurde in 10 Sprachen übersetzt und beeinflusste nachweislich andere renommierte Wissenschaftler wie Max Weber oder Sigmund Freud.
Gustave Le Bon (* 7. Mai 1841 in Nogent-le-Rotrou; † 13. Dezember 1931 in Paris) gilt als Begründer der Massenpsychologie. Seine Wirkung auf die Nachwelt, wissenschaftlich auf Sigmund Freud und Max Weber, politisch insbesondere auf den Nationalsozialismus und seine Protagonisten, war groß. Seine Gedanken sind teils stark zeitgebunden und massiv durch persönliche Erfahrungen beeinflusst. Sie werden bis heute von der Sozialpsychologie diskutiert.
VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
Meine frühere Arbeit war der Darstellung der Rassenseele gewidmet. Hier wollen wir die Massenseele untersuchen. Der Inbegriff der gemeinsamen Merkmale, die allen Angehörigen einer Rasse durch Vererbung zuteil wurden, macht die Seele dieser Rasse aus. Wenn sich jedoch eine gewisse Anzahl solcher einzelnen massenweise zur Tat vereinigt, so zeigt sich, daß sich aus dieser Vereinigung bestimmte neue psychologische Eigentümlichkeiten ergeben, die zu den Rassenmerkmalen hinzukommen und sich zuweilen erheblich von ihnen unterscheiden. Die organisierten Massen haben zu allen Zeiten eine wichtige Rolle im Völkerleben gespielt, niemals aber in solchem Maße wie heute. Die unbewußte Wirksamkeit der Massen, die an die Stelle der bewußten Tatkraft der einzelnen tritt, bildet ein wesentliches Kennzeichen der Gegenwart. Ich habe versucht, das schwierige Problem der Massen in streng wissenschaftlicher Weise zu behandeln, also methodisch und unbekümmert um Meinungen, Theorien und Doktrinen. Nur so, glaube ich, kommt man zur Erkenntnis der Wahrheit, besonders, wenn es sich, wie hier, um eine Frage handelt, die die Geister lebhaft erregt. Der Forscher, der sich um die Erklärung einer Erscheinung bemüht, hat sich um die Interessen, die durch seine Untersuchung berührt werden können, nicht zu kümmern. Ein ausgezeichneter Denker, Goblet dAlviella, hat in einer seiner Schriften gesagt, ich gehöre keiner zeitgenössischen Kritik an und träte zuweilen in Gegensatz zu gewissen Folgerungen aller Schulen. Hoffentlich verdient die vorliegende Arbeit das gleiche Urteil. Zu einer Schule gehören heißt: deren Vorurteile und Standpunkte teilen müssen. Ich muß jedoch dem Leser erklären, warum ich aus meinen Studien Schlüsse ziehe, welche von denen abweichen, die sich auf den ersten Blick daraus ergeben, z.B. wenn ich den außerordentlichen geistigen Tiefstand der Massen feststelle und doch behaupte, es sei unge- achtet dieses Tiefstandes gefährlich, die Organisation der Massen anzutasten. Sorgfältige Beobachtung der geschichtlichen Tatsachen hat mir nämlich stets gezeigt, daß es ganz und gar nicht in unserer Macht steht, die sozialen Organismen, die ebenso kompliziert sind wie andere Organisationen, jäh tiefgehenden Umwandlungen zu unterwerfen. Zuweilen ist die Natur radikal, doch nicht so, wie wir es verstehen; daher gibt es nichts Traurigeres für ein Volk als die Leidenschaft der großen Umgestaltungen, so vortrefflich sie theoretisch scheinen mögen. Nützlich wären sie nur dann, wenn es möglich wäre, die Seelen der Völker plötzlich zu ändern. Die Zeit allein hat diese Macht. Die Menschen werden von Ideen, Gefühlen und Gewohnheiten geleitet, von Eigenschaften, die in ihnen selbst stecken. Einrichtungen und Gesetze sind Offenbarungen unserer Seele, der Ausdruck ihrer Bedürfnisse. Da die Einrichtungen und Gesetze von der Seele ausgehen, wird sie von ihnen nicht beeinflußt. Das Studium der sozialen Erscheinungen läßt sich nicht von dem der Völker trennen, bei denen sie sich gebildet haben. Philosophisch betrachtet, können diese Erscheinungen unbedingten Wert haben, praktisch aber sind sie nur von bedingtem Wert. Man muß also beim Studium einer sozialen Erscheinung dieselbe Sache nacheinander von zwei ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten. Wir sehen demnach, daß die Lehren der reinen Vernunft sehr oft denen der praktischen entgegengesetzt sind. Es gibt keine Tatsachen, auch nicht auf physischem Gebiet, auf die sich diese Unterscheidung nicht anwenden ließe. Vom Gesichtspunkt der unbedingten Wahrheit aus sind ein Würfel, ein Kreis unveränderliche geometrische Figuren, die mittels feststehender Formeln genau zu bestimmen sind. Für den Gesichtssinn können diese geometrischen Figuren sehr mannigfache Formen annehmen. In der Wirklichkeit kann die Perspektive den Würfel in eine Pyramide oder in ein Quadrat, den Kreis in eine Ellipse oder Gerade verwandeln. Und diese angenommenen Formen sind von viel größerer Bedeutung als die wirklichen; denn sie sind die einzigen, die wir sehen und die sich photographisch oder zeichnerisch wiedergeben lassen. Das Unwirkliche ist in gewissen Fällen wahrer als das Wirkliche. Es hieße, die Natur umformen und unkenntlich machen, wollte man sich die Dinge in ihren streng geometrischen Formen vorstellen. In einer Welt, deren Bewohner die Dinge nur abbilden oder photographieren könnten, jedoch nicht berühren, würde man nur sehr schwer zu einer genauen Vorstellung ihrer Form gelangen, und die Kenntnis dieser Form, die nur einer geringen Zahl von Gelehrten zugänglich wäre, würde nur schwaches Interesse wecken. Der Philosoph, der die sozialen Erscheinungen studiert, muß sich vor Augen halten, daß sie neben ihrem theoretischen auch praktischen Wert haben und daß dieser vom Gesichtspunkt der Kulturentwicklung der einzig bedeutsame ist. Das muß ihn sehr vorsichtig machen gegen die Folgerungen, welche die Logik ihm zunächst einzugeben scheint. Auch andere Gründe veranlassen ihn zur Zurückhaltung. Die sozialen Tatsachen sind so verwickelt, daß man sie in ihrer Gesamtheit nicht umfassen und die Wirkungen ihrer wechselseitigen Beeinflussung nicht Voraussagen kann. Auch scheinen sich hinter den sichtbaren Tatsachen oft Tausende von unsichtbaren Ursachen zu verbergen. Die sichtbaren sozialen Tatsachen scheinen die Folgen einer riesigen, unbewußten Wirkungskraft zu sein, die nur zu oft unserer Untersuchung unzugänglich ist. Die wahrnehmbaren Erscheinungen lassen sich den Wogen vergleichen, welche der Oberfläche des Ozeans die unterirdischen Erschütterungen mitteilen, die in seinen Tiefen Vorgehen, und die wir nicht kennen. In den meisten Fällen zeigt die Handlungsweise der Massen eine außerordentlich niedrige Geistigkeit; aber in anderen Handlungen scheinen sie von jenen geheimnisvollen Kräften gelenkt zu werden, welche die Alten Schicksal, Natur, Vorsehung nannten, die wir als die Stimmen der Toten bezeichnen, und deren Macht wir nicht verkennen können, so unbekannt uns auch ihr Wesen ist. Oft scheint es, als ob die Völker in ihrem Schoß verborgene Kräfte tragen, von denen sie geführt werden. Kann etwas verwickelter, logischer, wunderbarer sein als eine Sprache? Und entspringt nicht dies wohlgeordnete und feine Gebilde der unbewußten Massenseele? Die gelehrtesten Hochschulen verzeichnen nur die Regeln dieser Sprachen, wären aber nicht imstande, sie zu schaffen. Wissen wir sicher, ob die genialen Ideen der großen Männer ausschließlich ihr eigenes Werk sind? Zweifellos sind sie stets Schöpfungen einzelner Geister, aber die unzähligen Körnchen, die den Boden für den Keim dieser Ideen bilden, hat die Massenseele sie nicht erzeugt? Gewiß üben die Massen ihre Wirkungskraft stets unbewußt aus. Aber vielleicht ist gerade dies Unbewußte das Geheimnis ihrer Kraft. In der Natur gibt es Wesen, die nur aus Instinkt handeln und Taten vollbringen, deren wunderbare Mannigfaltigkeit wir anstaunen. Der Gebrauch der Vernunft ist für die Menschheit noch» zu neu und zu unvollkommen, um die Gesetze des Unbewußten enthüllen zu können und besonders, um es zu ersetzen. Der Anteil des Unbewußten an unseren Handlungen ist ungeheuer und der Anteil der Vernunft sehr klein. Das Unbewußte ist eine Wirkungskraft, die wir noch nicht erkennen können. Wollen wir uns also in den engen, aber sicheren Grenzen der wissenschaftlich erkennbaren Dinge halten und nicht auf dem Felde unbestimmter Vermutungen und nichtiger Voraussetzungen umherirren, so dürfen wir nur die Erscheinungen feststellen, die uns zugänglich sind, und müssen uns damit begnügen. Jede Folgerung, die wir aus unseren Beobachtungen ziehen, ist meistens voreilig; denn hinter den wahrgenommenen Erscheinungen gibt es solche, die wir undeutlich sehen, und hinter diesen wahrscheinlich noch andere, die wir überhaupt nicht erkennen.  Le Bon

EINLEITUNG DAS ZEITALTER DER MASSEN
Die großen Erschütterungen, welche den Kulturwenden vorangehen, scheinen auf den ersten Blick durch bedeutsame politische Veränderungen bestimmt zu sein: durch Völkerinvasion oder durch den Sturz von Herrscherhäusern. Eine aufmerksame Untersuchung dieser Ereignisse enthüllt jedoch hinter ihren scheinbaren Ursachen als wahre Ursache eine tiefgehende Veränderung in den Anschauungen der Völker. Das sind nicht die wahren historischen Erschütterungen, die uns durch ihre Größe und Heftigkeit verwundern. Die einzigen Veränderungen von Bedeutung - die einzigen, aus welchen die Erneuerung der Kulturen hervorgeht - vollziehen sich innerhalb der Anschauungen, der Begriffe und des Glaubens. Die bemerkenswerten Ereignisse der Geschichte sind die sichtbaren Wirkungen der unsichtbaren Veränderungen des menschlichen Denkens. Wenn diese großen Ereignisse so selten sind, so hat das seinen Grund darin, daß es nichts Beständigeres in einer Rasse gibt als das Erbgut ihrer Gefühle. Das gegenwärtige Zeitalter bildet einen jener kritischen Zeitpunkte, in denen das menschliche Denken im Begriff ist, sich zu wandeln. Da die Ideen der Vergangenheit, obwohl halb zerstört, noch sehr mächtig, und die Ideen, die sie ersetzen sollen, erst in der Bildung begriffen sind, so ist die Gegenwart eine Periode des Überganges und der Anarchie. Was aus diesem notwendig etwas chaotischen Zeitraum einmal hervorgehen wird, ist im Augenblick nicht leicht zu sagen. Auf welchem Grundgedanken wird sich die künf- tige Gesellschaft aufbauen? Wir wissen es noch nicht. Schon jetzt aber kann man voraussehen, daß sie bei ihrer Organisation mit einer neuen Macht, der jüngsten Herrscherin der Gegenwart, zu rechnen haben wird: mit der Macht der Massen. Auf den Ruinen so vieler, einst für wahr gehaltener und jetzt toter Ideen, so vieler Mächte, die durch Revolutionen nach und nach gebrochen worden sind, hat diese Macht allein sich erhoben und scheint bald die ändern aufsaugen zu wollen. Während alle unsre alten Anschauungen schwanken und verschwinden und die alten Gesellschaftsstützen eine nach der andern einstürzen, ist die Macht der Massen die einzige Kraft, die durch nichts bedroht wird und deren Ansehen immer mehr wächst. Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit das Zeitalter der Massen sein. Vor kaum einem Jahrhundert bestanden die Haupttriebkräfte der Ereignisse in der überlieferten Politik der Staaten und dem Wettstreit der Fürsten. Die Meinung der Massen galt in den meisten Fällen gar nichts. Heute gelten die politischen Überlieferungen, die persönlichen Bestrebungen der Herrscher und deren Wettstreit nur noch wenig. Die Stimme des Volkes hat das Übergewicht erlangt. Sie schreibt den Königen ihr Verhalten vor. In der Seele der Massen, nicht mehr in den Fürstenberatungen bereiten sich die Schicksale der Völker vor. Der Eintritt der Volksklassen in das politische Leben, ihre fortschreitende Umwandlung zu führenden Klassen, ist eines der hervorstechendsten Kennzeichen unsrer Übergangszeit. Dieser Eintritt wird nicht durch das allgemeine Stimmrecht gekennzeichnet, das lange Zeit so wenig einflußreich und anfangs so leicht zu lenken war. Die Geburt der Macht der Masse entstand zuerst durch die Verbreitung gewisser Gedankengänge, die langsam von den Geistern Besitz ergriffen, sodann durch die allmähliche Vereinigung der einzelnen zur Verwirklichung der bisher theoretischen Anschauungen. Die Vereinigung ermöglichte es den Massen, sich, wenn auch nicht sehr richtige, so doch wenigstens ganz bestimmte Ideen von ihren Interessen zu bilden und das Bewußtsein ihrer Kraft zu erlangen. Sie gründen Syndikate, denen sich alle Machthaber unterwerfen, Arbeitsbörsen, die allen Wirtschaftsgesetzen zum Trotz die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes zu regeln suchen. Sie entsenden in die Parlamente Abgeordnete, denen aller Unternehmungsgeist, alle Selbständigkeit fehlt, und die oft nur zu Wortführern der Ausschüsse, die sie gewählt hatten, herabgewürdigt wurden. Heute werden die Forderungen der Massen nach und nach immer deutlicher und laufen auf nichts Geringeres hinaus als auf den gänzlichen Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft, um sie jenem primitiven Kommunismus zuzuführen, der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gemeinschaft war. Begrenzung der Arbeitszeit, Enteignung von Bergwerken, Eisenbahnen, Fabriken und Boden, gleiche Verteilung aller Produkte, Abschaffung aller oberen Klassen zugunsten der Volksklassen usw. - das sind ihre Forderungen. Je weniger die Masse vernünftiger Überlegung fähig ist, um so mehr ist sie zur Tat geneigt. Die Organisation hat ihre Kraft ins Ungeheure gesteigert. Die Glaubenslehren, die wir auftauchen sehen, werden bald die Macht der alten Glaubenslehren besitzen, d. h. die tyrannische und herrische Kraft, welche sich aller Auseinandersetzung entzieht. Das göttliche Recht der Massen wird das göttliche Recht der Könige ersetzen. Die Lieblingsschriftsteller der jetzigen Bourgeoisie, die am besten deren etwas beschränkte Ideen, ihre kurzsichtigen Anschauungen, ihren allgemeingehaltenen Skeptizismus und oft übermäßigen Egoismus schildern, geraten vor der neuen Macht, die sie heranwachsen sehen, völlig außer Fassung und richten, um die Verwirrung der Geister zu bekämpfen, einen verzweifelten Appell an die sittlichen Kräfte der Kirche, die sie einst so gering schätzten. Sie sprechen vom Bankrott der Wissenschaft und erinnern uns an die Lehren der geoffenbarten Wahrheiten. Aber diese Neubekehrten vergessen, daß die Gnade, wenn sie sie wirklich berührte, doch nicht die gleiche Macht über jene Seelen hat, die sich wenig um das Jenseits kümmern. Die Massen wollen heute die Götter nicht mehr, die ihre ehemaligen Herren gestern noch verleugneten und zerstören halfen. Die Flüsse fließen nicht zu ihren Quellen zurück. Die Wissenschaft hat mitnichten Bankrott gemacht und hat nichts mit der gegenwärtigen Anarchie der Geister oder mit der neuen Macht zu tun, die in ihrem Schoße emporwächst. Sie hat uns die Wahrheit verheißen oder wenigstens die Erkenntnis der Zusammenhänge, die unsrem Verstände zugänglich sind; sie hat uns niemals den Frieden und das Glück versprochen. In überlegener Gleichgültigkeit gegen unsre Gefühle hört sie unsre Klagen nicht, und nichts vermag uns die Täuschungen wiederzugeben, die sie vertrieb. Allgemeine Symptome, die bei allen Nationen erkennbar sind, zeigen uns das reißende Anwachsen der Macht der Massen. Was es auch bringen mag, wir werden es ertragen müssen. Alle Anschuldigungen sind nur nutzloses Gerede. Vielleicht bedeutet der Aufstieg der Massen eine der letzten Etappen der Kulturen des Abendlandes, die Rückkehr zu jenen Zeiten verworrener Anarchie, die stets dem Aufblühen einer neuen Gesellschaft voranzugehen scheinen. Aber wie wäre er zu verhindern? Bisher bestand die Aufgabe der Massen offenbar in diesen großen Zerstörungen der alten Kulturen. Die Geschichte lehrt uns, daß in dem Augenblick, da die moralischen Kräfte, das Rüstzeug einer Gesellschaft, ihre Herrschaft verloren haben, die letzte Auflösung von jenen unbewußten und rohen Massen, welche recht gut als Barbaren gekennzeichnet werden, herbeigeführt wird. Bisher wurden die Kulturen von einer kleinen, intellektuellen Aristokratie geschaffen und geleitet, niemals von den Massen. Die Massen haben nur Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stets eine Stufe der Auflösung. Eine Kultur setzt feste Regeln, Zucht, den Übergang des Triebhaften zum Vernünftigen, die Vorausberechnung der Zukunft, über- haupt einen hohen Bildungsgrad voraus - Bedingungen, für welche die sich selbst überlassenen Massen völlig unzugänglich sind. Vermöge ihrer nur zerstörerischen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben, welche die Auflösung geschwächter Körper oder Leichen beschleunigen. Ist das Gebäude einer Kultur morsch geworden, so führen die Massen seinen Zusammenbruch herbei. Jetzt tritt ihre Hauptaufgabe zutage. Plötzlich wird die blinde Macht der Masse für einen Augenblick zur einzigen Philosophie der Geschichte. Wird es sich mit unsrer Kultur ebenso verhalten? Es ist zu befürchten, aber wir wissen es noch nicht. Wir müssen uns damit abfinden, die Herrschaft der Massen zu ertragen, da unvorsichtige Hände allmählich alle Schranken, die jene zurückhalten konnten, niedergerissen haben. Wir kennen diese Massen, von denen man jetzt so viel spricht. Die Psychologen von Fach, die nicht in ihrer Nähe leben, haben sie stets ignoriert und sich mit ihnen nur in bezug auf die Verbrechen beschäftigt, zu denen sie fähig sind. Zweifellos gibt es verbrecherische Massen, aber es gibt auch tugendhafte, heroische und noch viele andersartige Massen. Die Massenverbrechen bilden lediglich einen Sonderfall ihres Seelenlebens und lassen ihre geistige Beschaffenheit nicht besser erkennen als die eines Einzelwesens, von dem man nur seine Laster kennt. Doch offen gestanden: Alle Herren der Erde, alle Religions- und Reichsstifter, die Apostel aller Glaubensrichtungen, die hervorragenden Staatsmänner und, in einer bescheideneren Sphäre, die einfachen Häupter kleiner menschlicher Gemeinschaften waren stets unbewußte Psychologen mit einer instinktiven und oft sehr sicheren Kenntnis der Massenseele; weil sie diese gut kannten, wurden sie so leicht Machthaber. Napoleon erfaßte wunderbar das Seelenleben der französischen Massen, aber er verkannte oft völlig die Massenseele fremder Rassen'. Diese Unkenntnis, veranlaßte ihn, namentlich in Spanien und Rußland, Kriege zu führen, die seinen Sturz vorbereiteten. Die Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute das letzte Hilfsmittel für den Staatsmann, der diese nicht etwa beherrschen - das ist zu schwierig geworden -, aber wenigstens nicht allzusehr von ihnen beherrscht werden will. Die Massenpsychologie zeigt, wie außerordentlich wenig Einfluß Gesetze und Einrichtungen auf die ursprüngliche Natur der Massen haben und wie unfähig diese sind, Meinungen zu haben außer jenen, die ihnen eingeflößt wurden; Regeln, welche auf rein begrifflichem Ermessen beruhen, vermögen sie nicht zu leiten. Nur die Eindrücke, die man in ihre Seele pflanzt, können sie verführen. Darf z.B. ein Gesetzgeber, der eine neue Steuer auflegen will, die theoretisch gerechteste wählen? Keinesfalls. Die ungerechteste kann praktisch für die Massen die beste sein, wenn sie am unauffälligsten und leichtesten in Erscheinung tritt. Auf diese Weise wird eine noch so hohe indirekte Steuer allezeit von der Masse angenommen werden. Wenn sie täglich pfennigweise für Konsumartikel entrichtet wird, stört sie die Gewohnheiten nicht und beeinflußt sie wenig. Man lege an ihrer Stelle eine proportionale, auf einmal zu entrichtende Steuer auf die Löhne oder anderen Einkommen, mag sie auch theoretisch zehnmal weniger hart sein als die andre, so wird sie heftigen Widerspruch erregen. An Stelle der täglichen Pfennige, die man nicht spürt, tritt nämlich eine verhältnismäßig hohe Geldsumme, die am Zahltag riesig groß erscheint und sehr nachdrücklich empfunden wird. Sie wäre nur dann unbemerkt verbraucht worden, wenn sie Pfennig für Pfennig zur Seite gelegt worden wäre; aber ein so wirtschaftliches Gebaren würde ein Maß von Voraussicht beweisen, dessen die Massen unfähig sind. Dies Beispiel enthüllt sonnenklar ihre geistige Verfassung. Einem Psychologen wie Napoleon ist sie nicht entgangen, aber die Gesetzgeber, weiche die Massenseele nicht beachten, würden sie nicht verstehen. Die Erfahrung hat ihnen noch nicht genügend bewiesen, daß die Menschen sich niemals von den Vorschriften der reinen Vernunft leiten lassen. So ließe sich die Massenpsychologie noch auf vieles andere anwenden. Ihre Kenntnis wirft hellstes Licht auf zahlreiche historische und ökonomische Erscheinungen, die ohne sie völlig unverständlich bleiben. Selbst wenn es lediglich das Interesse unsrer Neugier befriedigte, verdiente das Studium der Massenpsychologie in Angriff genommen zu werden, denn es ist ebenso interessant, die Triebkräfte der menschlichen Handlungen zu enträtseln, wie die eines Minerals oder einer Pflanze. Unser Studium der Massenseele wird nur einen kurzen Überblick, eine bloße Zusammenfassung unsrer Untersuchungen bieten können. Man darf von ihr nicht mehr als einige anregende Gesichtspunkte verlangen. Andere werden das Gebiet besser bearbeiten. Heute ist es noch jungfräulicher Boden, den wir beackern.

ERSTES BUCH DIE MASSENSEELE
1. KAPITEL Allgemeine Kennzeichen der Massen.
Das psychologische Gesetz von ihrer seelischen Einheit Im gewöhnlichen Wortsinn bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher einzelner von beliebiger Nationalität, beliebigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlaß der Vereinigung. Vom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck „Masse“ etwas ganz anderes. Unter bestimmten Umständen, und nur unter diesen Umständen, besitzt eine Versammlung von Menschen neue, von den Eigenschaften der einzelnen, die diese Gesellschaft bilden, ganz verschiedene Eigentümlichkeiten. Die bewußte Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Gemeinschaftsseele, die wohl veränderlich, aber von ganz bestimmter Art ist. Die Gesamtheit ist nun das geworden, was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder, wenn man lieber will, als psychologische Masse bezeichnen werde. Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Massen (loi de l’unité mentale des foules). Die Tatsache, daß viele Individuen sich zufällig zusammenfinden, verleiht ihnen noch nicht die Eigenschaften einer organisierten Masse. Tausend zufällig auf einem öffentlichen Platz, ohne einen bestimmten Zweck versammelte einzelne bilden keineswegs eine Masse im psychologischen Sinne. Damit sie die besonderen Wesenszüge der Masse annehmen, bedarf es des Einflusses gewisser Reize, deren Wesensart wir zu bestimmen haben. Das Schwinden der bewußten Persönlichkeit und die Orientierung der Gefühle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung, die ersten Vorstöße der Masse auf dem Weg, sich zu organisieren, erfordern nicht immer die gleichzeitige Anwesenheit mehrerer einzelner an einem einzigen Ort. Tausende von getrennten einzelnen können im gegebenen Augenblick unter dem Einfluß gewisser heftiger Gemütsbewegungen, etwa eines großen nationalen Ereignisses, die Kennzeichen einer psychologischen Masse annehmen. Irgendein Zufall, der sie vereinigt, genügt dann, daß ihre Handlungen sogleich die besondere Form der Massenhandlungen annehmen. In gewissen historischen Augenblicken kann ein halbes Dutzend Menschen eine psychologische Masse ausmachen, während hunderte zufällig vereinigte Menschen sie nicht bilden können. Andererseits kann bisweilen ein ganzes Volk ohne sichtbare Zusammenscharung unter dem Druck gewisser Einflüsse zur Masse werden. Hat sich eine psychologische Masse gebildet, so erwirbt sie vorläufige, aber bestimmbare allgemeine Merkmale. Diesen allgemeinen Merkmalen gesellen sich besondere Kennzeichen veränderlicher Art hinzu, je nach den Elementen, aus denen die Masse sich zusammensetzt und durch die ihre geistige Struktur zu verändern ist. Die psychologischen Massen lassen sich also einteilen. Das Studium dieser Einteilung wird uns zeigen, daß eine heterogene, d.h. aus ungleichartigen Elementen zusammengesetzte Masse mit homogenen, d.h. aus mehr oder minder ähnlichen Elementen zusammengesetzten Massen (Sekten, Kasten, Klassen) allgemeine Kennzeichen gemein hat und außerdem noch Besonderheiten aufweist, durch die sie sich voneinander unterscheiden lassen. Bevor wir uns aber mit den verschiedenen Arten der Masse befassen, müssen wir zuerst die allgemeinen Kennzeichen untersuchen. Wir werden gleich dem Naturforscher Vorgehen, der mit der Beschreibung der allgemeinen Merkmale der Mitglieder einer Familie beginnt, bevor er sich mit den besonderen Merkmalen befaßt, welche die Unterscheidung der Gattungen und Arten dieser Familie ermöglichen. Die genaue Schilderung der Massenseele ist nicht leicht, weil ihre Organisation nicht bloß nach Rasse und Zusammensetzung der Gesamtheit, sondern auch nach der Natur und dem Grade der Anreize schwankt, denen diese Gesamtheit unterliegt. Aber dieselbe Schwierigkeit besteht für das psychologische Studium jedes beliebigen Wesens. Nur in Romanen, aber nicht im wirklichen Leben, haben die einzelnen einen beständigen Charakter aufzuweisen. Allein die Gleichförmigkeit der Umgebung schafft die sichtbare Gleichartigkeit der Charaktere. Ich habe anderwärts gezeigt, daß alle geistigen Beschaffenheiten Charaktermöglichkeiten enthalten, die sich unter dem Einfluß eines jähen Umgebungswechsels offenbaren können. So befanden sich unter den wildesten, grausamsten Konventmitgliedern gutmütige Bürger, die unter normalen Verhältnissen friedliche Notare oder ehrsame Beamte geworden wären. Als der Sturm vorüber war, nahmen sie ihren Normalcharakter als friedliche Bürger wieder an. Unter ihnen fand Napoleon seine willigsten Diener. Da wir hier nicht alle Stufen der Massenbildung studieren können, werden wir sie besonders in dem Zustand ihrer vollendeten Organisation ins Auge fassen. Wir werden auf diese Weise sehen, was sie werden können, aber nicht, was sie immer sind. Allein in diesem fortgeschrittenen Organisationszustand bauen sich auf dem unveränderlichen und vorherrschenden Rassenuntergrunde gewisse neue und besondere Merkmale auf, und es vollzieht sich die Wendung aller Gefühle und Gedanken der Gesamtheit nach einer übereinstimmenden Richtung. So allein offenbart sich, was ich oben das psychologische Gesetz der seelischen Einheit der Massen genannt habe. Verschiedene psychische Kennzeichen der Massen haben sie gemein mit alleinstehenden Individuen, während andere im Gegenteil nur bei Gesamtheiten anzutreffen sind. Wir wollen zunächst die besonderen Merkmale studieren, um ihre Bedeutung recht aufzuzeigen. Das Überraschendste an einer psychologischen Masse ist: welcher Art auch die einzelnen sein mögen, die sie bilden, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigungen, ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zu Masse besitzen sie eine Art Gemeinschaftsseele, vermöge deren sie in ganz andrer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde. Es gibt gewisse Ideen und Gefühle, die nur bei den zu Massen verbundenen einzelnen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen. Die psychologische Masse ist ein unbestimmtes Wesen, das aus ungleichartigen Bestandteilen besteht, die sich für einen Augenblick miteinander verbunden haben, genau so wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden. In Widerspruch zu einer Anschauung, die sich befremdlicherweise bei einem so scharfsinnigen Philosophen wie Herbert Spencer findet, gibt es in dem Haufen, der eine Masse bildet, keineswegs eine Summe und einen Durchschnitt der Bestandteile, sondern Zusammenfassung und Bildung neuer Bestandteile, genau so wie in der Chemie sich bestimmte Elemente, wie z.B. die Basen und Säuren, bei ihrem Zustandekommen zur Bildung eines neuen Körpers verbinden, dessen Eigenschaften von denen der Körper, die an seinem Zustandekommen beteiligt waren, völlig verschieden sind. Es ist leicht festzustellen, inwieweit sich der einzelne in einer Masse vom alleinstehenden einzelnen unterscheidet, weniger leicht aber ist die Aufdeckung der Ursachen dieser Verschiedenheit. Um diesen Ursachen wenigstens einigermaßen näherzukommen, muß man sich zunächst an die Feststellung der modernen Psychologie erinnern, daß nicht nur im organischen Leben, sondern auch in den Vorgängen des Verstandes die unbewußten Erscheinungen eine ausschlaggebende Rolle spielen. Das bewußte Geistesleben bildet nur einen sehr geringen Teil im Vergleich zum unbewußten Seelenleben. Der geschickteste Analytiker, der schärfste Beobachter kann nur eine sehr kleine Anzahl bewußter Triebfedern, die ihn führen, entdecken. Unsere bewußten Handlungen entspringen einer unbewußten Grundlage, die namentlich durch Vererbungseinflüsse geschaffen wird. Diese Grundlage enthält die zahllosen Ahnenspuren, aus denen sich die Rassenseele aufbaut. Hinter den eingestandenen Ursachen unserer Handlungen gibt es zweifellos geheime Gründe, die wir nicht eingestehen; hinter diesen aber liegen noch geheimere, die wir nicht einmal kennen. Die Mehrzahl unserer täglichen Handlungen ist nur die Wirkung verborgener Triebkräfte, die sich unserer Kenntnis entziehen. Durch die unbewußten Bestandteile, die der Rassenseele zugrunde liegen, ähneln sich alle einzelnen dieser Rasse, durch ihre bewußten Anlagen dagegen - Früchte der Erziehung, vor allem aber einer besonderen Erblichkeit - unterscheiden sie sich voneinander. Menschen von verschiedenartigster Intelligenz haben äußerst ähnliche Triebe, Leidenschaften und Gefühle. In allem, was Gegenstand des Gefühls ist: Religion, Politik, Moral, Sympathien und Antipathien usw. überragen die ausgezeichnetsten Menschen nur selten das Niveau der gewöhnlichen einzelnen. Zwischen einem großen Mathematiker und seinem Schuster kann verstandesmäßig ein Abgrund klaffen, aber hinsichtlich des Charakters ist der Unterschied oft nichtig oder sehr gering. Eben diese allgemeinen Charaktereigenschaften, die vom Unbewußten beherrscht werden und der Mehrzahl der normalen Angehörigen einer Rasse ziemlich gleichmäßig eigen sind, werden in den Massen vergemeinschaftlicht. In der Gemeinschaftsseele verwischen sich die Verstandesfähigkeiten und damit auch die Persönlichkeit der einzelnen. Das Ungleichartige versinkt im Gleichartigen, und die unbewußten Eigenschaften überwiegen. Eben die Vergemeinschaftlichung der gewöhnlichen Eigenschaften erklärt uns, warum die Massen niemals Handlungen ausführen können, die eine besondere Intelligenz beanspruchen. Die Entscheidungen von allgemeinem Interesse, die von einer Versammlung hervorragender, aber verschiedenartiger Leute getroffen werden, sind jenen, welche eine Versammlung von Dummköpfen treffen würde, nicht merklich überlegen. Sie können in der Tat nur die mittelmäßigen Allerweltseigenschaften vergemeinschaft- lichen. Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern nur die Mittelmäßigkeit in sich auf. Es hat nicht, wie man so oft wiederholt, die „ganze Welt mehr Geist als Voltaire“, sondern Voltaire hat zweifellos mehr Geist als die „ganze Welt“, wenn man unter dieser die Massen versteht. Beschränkten sich aber die Individuen der Masse auf Verschmelzung ihrer allgemeinen Eigenschaften, so ergäbe sich daraus nur ein Durchschnitt, aber nicht, wie wir sagten, eine Schöpfung neuer Eigentümlichkeiten. Wie bilden sich diese neuen Eigentümlichkeiten? Das haben wir jetzt zu untersuchen. Das Auftreten besonderer Charaktereigentümlichkeiten der Masse wird durch verschiedene Ursachen bestimmt. Die erste dieser Ursachen besteht darin, daß der einzelne in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt, welches ihm gestattet, Trieben zu frönen, die er für sich allein notwendig gezügelt hätte. Er wird ihnen um so eher nachgeben, als durch die Namenlosigkeit und demnach auch Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefühl, das die einzelnen stets zurückhält, völlig verschwindet. Eine zweite Ursache, die geistige Übertragung (contagion mentale), bewirkt gleichfalls das Erscheinen der besonderen Wesenszüge der Masse und zugleich ihre Richtung. Die Übertragung ist leicht festzustellen, aber noch nicht zu erklären; man muß sie den Erscheinungen hypnotischer Art zuordnen, mit denen wir uns sogleich beschäftigen werden. In der Masse ist jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar, und zwar in so hohem Grade, daß der einzelne sehr leicht seine persönlichen Wünsche den Gesamtwünschen opfert. Diese Fähigkeit ist seiner eigentlichen Natur durchaus entgegengesetzt, und nur als Bestandteil einer Masse ist der Mensch dazu fähig. Noch eine dritte, und zwar die wichtigste Ursache, ruft in den zur Masse vereinigten einzelnen besondere Eigenschaften hervor, welche denen der alleinstehenden einzelnen völlig widersprechen: ich rede von der Beeinflußbarkeit (suggestibilité), von der die obenerwähnte geistige Übertragung übrigens nur eine Wirkung ist. Um diese Erscheinung zu verstehen, müssen wir uns gewisse neue Entdeckungen der Physiologie vergegenwärtigen. Wir wissen heute, daß ein Mensch in einen Zustand versetzt werden kann, der ihn seiner bewußten Persönlichkeit beraubt und ihn allen Einflüssen des Hypnotiseurs, der ihm sein Bewußtsein genommen hat, gehorchen und Handlungen begehen läßt, die zu seinem Charakter und seinen Gewohnheiten in schärfstem Gegensatz stehen. Sorgfältige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen, daß ein einzelner, der lange Zeit im Schoße einer wirkenden Masse eingebettet war, sich alsbald - durch Ausströmungen, die von ihr ausgehen, oder sonst eine noch unbekannte Ursache - in einem besonderen Zustand befindet, der sich sehr der Verzauberung nähert, die den Hypnotisierten unter dem Einfluß des Hypnotiseurs überkommt. Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahmgelegt ist, wird er der Sklave seiner unbewußten Kräfte, die der Hypnotiseur nach seinem Belieben lenkt. Die bewußte Persönlichkeit ist völlig ausgelöscht, Wille und Unterscheidungsvermögen fehlen, alle Gefühle und Gedanken sind in die Sinne verlegt, die durch den Hypnotiseur beeinflußt werden. Ungefähr in diesem Zustand befindet sich der einzelne als Glied einer Masse. Er ist sich seiner Handlungen nicht mehr bewußt. Während bei ihm, wie beim Hypnotisierten, gewisse Fähigkeiten aufgehoben sind, können andere auf einen Zustand höchster Überspannung getrieben werden. Unter dem Einfluß einer Suggestion wird er sich mit unwiderstehlichem Ungestüm auf gewisse Taten werfen. Und dies Ungestüm ist in den Massen noch unwiderstehlicher als bei den Hypnotisierten, weil die für alle einzelnen gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit wächst. Die einzelnen in einer Masse, die eine hinreichend starke Persönlichkeit haben, um dem Einfluß zu widerstehen, sind in zu geringer Anzahl vorhanden, und der Strom reißt sie mit. Höchstens können sie vermittels eines anderen Einflusses eine Ablenkung versuchen. Ein glücklicher Ausdruck, ein im rechten Augenblick angewandter bildlicher Vergleich hat oft die Massen von den blutigsten Taten abgehalten. Die Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse sind also: Schwinden der bewußten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewußten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflößten Ideen. Der einzelne ist nicht mehr er selbst, er ist ein Automat geworden, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat. Allein durch die Tatsache, Glied einer Masse zu sein, steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab. Als einzelner war er vielleicht ein gebildetes Individuum, in der Masse ist er ein Triebwesen, also ein Barbar. Er hat die Unberechenbarkeit, die Heftigkeit, die Wildheit, aber auch die Begeisterung und den Heldenmut ursprünglicher Wesen, denen er auch durch die Leichtigkeit ähnelt, mit der er sich von Worten und Vorstellungen beeinflussen und zu Handlungen verführen läßt, die seine augenscheinlichsten Interessen verletzen. In der Masse gleicht der einzelne einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sandkörner, das der Wind nach Belieben emporwirbelt. Aus diesem Grunde sprechen Schwurgerichte Urteile aus, die jeder Geschworene als einzelner mißbilligen würde, Parlamente nehmen Gesetze und Vorlagen an, die jedes Mitglied einzeln ablehnen würde. Einzeln genommen waren die Männer des Konvents aufgeklärte Bürger mit fried- liehen Gewohnheiten. Zur Masse vereinigt zauderten sie nicht, unter dem Einfluß einiger Führer die offenbar unschuldigsten Menschen aufs Schafott zu schicken, brachen unter Außerachtlassung ihres eignen Vorteils deren Unverletzlichkeit und verringerten ihre Schar. Nicht nur in seinen Handlungen weicht das Glied der Masse von seinem normalen Ich ab. Schon bevor es jede Unabhängigkeit einbüßte, haben sich seine Gedanken und Gefühle umgeformt, und zwar so, daß der Geizige zum Verschwender, der Zweifler zum Gläubigen, der Ehrenmann zum Verbrecher, der Hasenfuß zum Helden wird. Der Verzicht auf alle seine verbrieften Vorrechte, den der Adel in einem Augenblick der Begeisterung in der berühmten Nacht vom 4. August 1789 leistete, wäre sicherlich von seinen Mitgliedern als einzelnen niemals angenommen worden. Aus den vorstehenden Beobachtungen ist zu schließen, daß die Masse dem alleinstehenden Menschen intellektuell stets untergeordnet ist. Hinsichtlich der Gefühle aber und der durch sie bewirkten Handlungen kann sie unter Umständen besser oder schlechter sein. Es hängt alles von der Art des Einflusses ab, unter dem die Masse steht. Das haben die Schriftsteller, die die Masse nur vom kriminellen Gesichtspunkt studiert haben, vollständig verkannt. Gewiß ist die Masse oft verbrecherisch, oft aber auch heldenhaft. Man bringt sie leicht dazu, sich für den Triumph eines Glaubens oder einer Idee in den Tod schicken zu lassen, begeistert sie für Ruhm und Ehre, daß sie sich, wie im Zeitalter der Kreuzzüge, fast ohne Brot und Wasser zur Befreiung des göttlichen Grabes von den Ungläubigen, oder wie im Jahre 1793 zur Verteidigung des vaterländischen Bodens fortreißen läßt. Gewiß ein unbewußtes Heldentum, aber durch solche Heldentaten vollzieht sich die Geschichte. Wollte man nur die mit kalter Überlegung ausgeführten Großtaten auf das Aktivkonto der Völker schreiben, so würden in den Weltannalen nur wenige verzeichnet sein.   2. KAPITEL Gefühle und Sittlichkeit der Massen Nach diesem allgemeinen Hinweis auf die Hauptkennzeichen der Massen kommen wir nun zur Untersuchung der Einzelheiten. Verschiedene besondere Eigenschaften der Massen, wie Triebhaftigkeit (impulsivité), Reizbarkeit (irritabilité), Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle (exagération des sentiments) und noch andere sind bei Wesen einer niedrigeren Entwicklungsstufe, wie beim Wilden und beim Kinde, ebenfalls zu beobachten. Ich streife diese Übereinstimmung nur im Vorübergehen, denn ihre Ausführung würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen. Sie wäre unnötig für alle mit der Psychologie der Primitiven Vertrauten und für jene, die nichts von ihr wissen, ohne rechte Überzeugungskraft. Ich gehe nun die verschiedenen Merkmale, die sich bei der Mehrzahl der Massen leicht beobachten lassen, der Reihe nach durch.  § l. Triebhaftigkeit, Beweglichkeit und Erregbarkeit der Massen Bei der Untersuchung ihrer grundlegenden Charakterzüge sagten wir, daß die Masse beinahe ausschließlich vom Unbewußten geleitet wird. Ihre Handlungen stehen viel öfter unter dem Einfluß des Rückenmarks als unter dem des Gehirns. Die vollzogenen Handlungen können ihrer Ausführung nach vollkommen sein, da sie aber nicht vom Gehirn ausgehen, so handelt der einzelne nach zufälligen Reizen. Die Masse ist der Spielball aller äußeren Reize, deren unaufhörlichen Wechsel sie widerspiegelt. Sie ist also die Sklavin der empfangenen Anregungen. Der alleinstehende einzelne kann ja denselben Reizen unterliegen wie die Masse, da ihm aber sein Gehirn die unangenehmen Folgen des Nachgebens zeigt, so gehorcht er ihnen nicht. Physiologisch läßt es sich so erklären, daß der alleinstehende einzelne die Fähigkeit zur Beherrschung seiner Empfindungen hat, die Masse aber nicht dazu imstande ist. Die mannigfachen Triebe, denen die Massen gehorchen, können je nach dem Anreiz edel oder grausam, heldenhaft oder feige sein, stets aber sind sie so unabweisbar, daß der Selbsterhaltungstrieb vor ihnen zurücktritt. Da die Reize, die auf eine Masse wirken, sehr wechseln und die Massen ihnen immer gehorchen, so sind sie natürlich äußerst wandelbar. Daher sehen wir sie auch in demselben Augenblick von der blutigsten Grausamkeit zum unbedingtesten Heldentum oder Edelmut übergehen. Die Masse wird leicht zum Henker, ebenso leicht aber auch zum Märtyrer. Aus ihrem Herzen flössen die Ströme von Blut, die für den Triumph jedes Glaubens notwendig sind. Man braucht nicht zu den Zeitaltern der Helden zurückzugehen, um zu erkennen, wozu die Massen fähig sind. Nie markten sie bei einem Aufstand um ihr Leben, und erst vor wenigen Jahren hätte ein General, der plötzlich volkstümlich geworden war, wenn er es verlangt hätte, leicht hunderttausend Menschen gefunden, bereit, sich für seine Sache töten zu lassen. Nichts ist also bei den Massen vorbedacht. Sie können unter dem Einfluß von Augenblicksreizen die ganze Folge der entgegengesetzten Gefühle durchlaufen. Sie gleichen den Blättern, die der Sturm aufwirbelt, nach allen Richtungen verstreut und wieder fallen läßt. Die Betrachtung gewisser revolutionärer Massen wird uns einige Beispiele für die Veränderlichkeit ihrer Gefühle geben. Diese Veränderlichkeit macht sie schwer regierbar, besonders wenn ein Teil der öffentlichen Gewalt in ihre Hände gefallen ist. Würden die Notwendigkeiten des Alltagslebens nicht eine Art unsichtbarer Regelung der Ereignisse herausbilden, so könnten die Demokratien nicht bestehen. Wenn auch die Massen die Dinge leidenschaftlich begehren, so wollen sie sie doch nicht für lange Zeit. Sie sind ebenso unfähig zu ausdauerndem Wollen wie zum Denken. Die Masse ist nicht nur triebhaft und wandelbar. Gleich dem Wilden läßt sie nicht zu, daß sich zwischen ihre Begierde und die Verwirklichung dieser Begierde ein Hindernis erhebt, um so weniger, als ihre Überzahl ihr das Gefühl unwiderstehlicher Macht gewährt. Für den einzelnen in der Masse schwindet der Begriff des Unmöglichen. Der alleinstehende einzelne ist sich klar darüber, daß er allein keinen Palast einäschern, keinen Laden plündern könnte, und die Versuchung dazu kommt ihm kaum in den Sinn. Als Glied einer Masse aber übernimmt er das Machtbewußtsein, das ihm die Menge verleiht, und wird der ersten Anregung zu Mord und Plünderung augenblicklich nachgeben. Ein unerwartetes Hindernis wird wütend zertrümmert. Wenn der menschliche Organismus dauernde Wut zuließe, so könnte man die Wut als den normalen Zustand der gehemmten Masse bezeichnen. Die Erregbarkeit, Triebhaftigkeit und Veränderlichkeit der Massen sowie das gesamte Empfinden des Volkes, das wir zu untersuchen haben, werden stets durch die grundlegenden Rasseeigenschaften abgewandelt. Sie bilden den festen Boden, in dem alle unsere Gefühle wurzeln. Ohne Zweifel sind die Massen reizbar und triebhaft, aber in den mannigfachsten Abstufungen. Der Unterschied zwischen einer lateinischen und einer angelsächsischen Masse z.B. ist auffallend. Die jüngsten Ereignisse unserer Geschichte geben ein sprechendes Bild davon. Im Jahre 1870 hat die Veröffentlichung eines einfachen Telegramms mit dem Bericht über eine angeblich einem Botschafter zugefügte Beleidigung genügt, einen Wutausbruch zu entfachen, der zur unmittelbaren Ursache eines furchtbaren Krieges wurde. Einige Jahre später erzeugte die telegraphische Anzeige einer unbedeutenden Schlappe bei Langson einen neuen Ausbruch, der den sofortigen Sturz der Regierung herbeiführte. Zu gleicher Zeit erregte die viel schwerere Niederlage einer englischen Expedition bei Khartum nur eine sehr schwache Bewegung in England, und kein Ministerium fiel. Überall sind die Massen weibisch, die weibischsten aber sind die lateinischen Massen. Wer sich auf sie stützt, kann sehr hoch und sehr schnell steigen, aber stets in der Nähe des tarpeji- schen Felsens und mit der Gewißheit, eines Tages hinuntergestürzt zu werden.